STABAT MATER FURIOSA – DER ANDAUERNDE SCHREI GEGEN DEN KRIEG

STABAT MATER FURIOSA – DER ANDAUERNDE SCHREI GEGEN DEN KRIEG

Im Sommer 1997 schrieb der heute 73-jährige französische Dichter und Dramaturg Jean-Pierre Siméon, der durch den vom Bürgerkrieg gemarterten Libanon reiste, sein Gedicht „Stabat Mater Furiosa“ (dt.: „Es stand die Mutter voller Wut“) für seine Landsmännin, die Schauspielerin Gisèle Torterolo.

Die Bilanz des libanesischen Bürgerkrieges: 170.000 Tote, 300.000 Verwundete und 800.000 Vertriebene sind für den Zeitraum von 1975–1990 zu beklagen.[1]

Siméons Text ist ein Monolog, eine Verschmelzung von Poesie und Dramatik und gleicht einer lyrischen zeitlosen Anklageschrift gegen den Krieg, den Hass und die Gewalt. Gegen die Kriege von damals im Libanon, in Ruanda, auf dem Balkan und in Tschetschenien. Das Gedicht hat keinerlei Aktualität verloren und verschmilzt Erinnerung mit Tagesgeschehen – gegen die Kriege von heute in der Ukraine, im Nahen Osten, in Syrien und die von morgen. Es spielt also keine Rolle, wo dies geschah, es geht darum, die permanenten Gräuel des Krieges und der Gewalt anzuprangern, universell und unveränderbar.

Die „Stabat Mater Furiosa“ ist der wütende, glühend-zornige, schmerzhafte und dennoch zerbrechliche und sinnliche Schrei einer Frau, die „Nein“ zu einem Mann, Vater, Sohn, Bruder sagt, zu einem Milizionär, einem Kämpfer oder Soldaten (Contre l‘homme de G/guerre).

„Ich bin diejenige, die sich weigert zu verstehen, ich bin die, die nicht verstehen will und fleht…“[2], beginnt sie den Monolog wie eine geballte Faust im Angesicht der Geschichte. Jenseits von Tränen und Vernunft. Es ist ebenso der Schrei des Dichters Jean-Pierre Siméon, ein Schrei, der in einem Zug von ihm auf das Papier geworfen wurde, am 19. August 1997 in Saïda im Libanon. Es ist ein düsterer, ein harter, gewalttätiger und Bilder erzeugender Text, der nur von einer Hoffnung erhellt wird: von einer Welt ohne Krieg – und für die Liebe, das Leben, die Menschlichkeit steht.

Die Worte des Dichters befreien und kristallisieren den Schmerz aus den täglichen Nachrichten. Paul Valéry[3] schrieb einmal passend: „Lyrik setzt die Stimme in Aktion“[4] voraus.

Und Siméon erläutert in einem Interview im Jahr 2008 näher: „Ich habe mich darum bemüht, dass das Schreiben des Gedichts ständig performativ ist. Ich kratzte bis zur Tiefenstruktur des Textes, bis zu den Bewegungen unterhalb der Syntax, um mich so genau wie möglich in diesem Wort zu befinden, ohne irgendeinen Kommentar hinzuzufügen. Dann habe ich die Schauspielerin Gisèle Torterolo[5] gebeten, den Punkt der emotionalen Ermüdung zu finden, das blutrote Fleisch als die Zeichnung der Worte zu finden“.

Der ägyptisch-österreichische Komponist und Instrumentalist Hossam Mahmoud hat Erfahrung mit musikalisch-dramatischen Gedichten[6]. Er erhielt den Auftrag, das lyrische Stück von Siméon zu vertonen, zu einer Oper zu gestalten. Am 7. März 2024 ist es soweit: die Uraufführung seiner „Mutter voller Wut“ findet im Max Schlereth Saal, Universität Mozarteum, Mirabellplatz 1 in Salzburg statt.

Hossam Mahmoud antwortet mir auf die Frage wie es zum Kompositionsauftrag kam: „Vor gut vier Jahren kam der französische Librettist Christian Olivier nach Salzburg und zeigte mir den Theatermonolog von Jean-Pierre Siméon. Nachdem ich ihn gelesen hatte, ließen mich diese Texte innerlich nicht mehr los. Ich leitete sie daraufhin weiter an den Dirigenten Kai Röhrig und die Dramaturgin Ronny Dietrich. Ihnen erging es genauso wie mir.

Christian Olivier schrieb das Libretto und Kai Röhrig reichte es weiter an Ludwig Nussbichler, den Intendanten des Aspekte Festivals, der sein Interesse dafür umgehend ausdrückte und das Projekt übernahm. Für mich ist es eine Ehre für dieses renommierte Festival diese Oper zu schreiben.“

In der Vertonung des Stoffes setzt der Komponist auf die Inszenierung des Singens anstatt des Sprechens. Paul Valérys „die Stimme in Aktion“ wird nun erweitert mit Gesang, Musik und Performance, immer die bedrückenden Handlungen und Texte vor Augen. Mahmoud holt das Antikriegsthema aus der Vergangenheit des Libanons, über die Historie der Sprechtheateraufführungen hinaus in die Gegenwart und ergänzt es musikalisch-szenisch. Damit wird es kulturell etwas Neues.

Komposition, Operninszenierung und Publikumserleben schützen in diesem neuen, anderen Kontext zwar die gleichen Werte – Freiheit, Frieden und Hoffnung und sind gegen Krieg und Unterdrückung, Schmerz und Wut –, die Re-Definition ergibt sich jedoch aus einer eigenen performativen und mikrotonalen Erzählweise. Es liegt somit nahe, auch das Hören, die Vorstellung und die Definition von Mikrotonalität – für die Mahmoud bekannt ist – als ein zentrales künstlerisches Element zu sehen. Das gilt für den Monolog für Sopran, die drei Frauenstimmen, den Frauenchor als auch für das Orchester gleichermaßen. Ein wesentlicher Aspekt wird neben den stimmlichen Bedingungen, „die Kenntnis der mikrotonalen Instrumente und Fragen über Spieltechniken, Instrumentation etc., die direkt mit der Realisation von Tonhöhen in einem mikrotonalen Kontext zu tun haben.“[7]

Claus Friede (CF): Wie erschaffen Sie eine Komposition, die dem poetischen Text gerecht wird?

Hossam Mahmoud (HM): Bei einer Oper braucht man vor allem eine Handlung! Man muss in die Tiefe des Gedichtes eintauchen, um die Klänge zu hören und niederschreiben zu können. So einem Gedicht bin ich noch nie zuvor begegnet. Ich war schockiert, als ich mit dem Lesen begann. Die Texte sind direkt, treffend nackt ohne Schleier. Deswegen musste die Musik eine andere Aufgabe übernehmen als bisher üblich.

CF: Müsste der Schmerz, der Aufschrei der Frau nicht auch der Schmerz der gesamten Menschheit sein?

HM: Ja! Das war meine Hauptschaffensidee. Das Ganze passiert in einem entscheidenden Augenblick des Lebens der Mater Furiosa. Sie sieht die Welt und die Menschheit mit vollkommener Deutlichkeit und betrachtet und erzählt detailliert die Ursprünge der Gewaltbereitschaft des Mannes des Krieges.

CF: Was bringen Sie in die Komposition ein, was aus ihrer bisherigen Erfahrung resultiert?

HM: Wenn ich Ost und West, Süd und Nord in mir trennen sollte, könnte ich nicht komponieren. Beide Kulturen sind in mir verschmolzen.

Ich habe die ägyptische Revolution erlebt und bei ihr mitgewirkt, ich war mittendrin. Daraus habe ich gelernt, dass die Menschen in solchen Situationen neben Idealismus von einem unkontrollierten Egoismus begleitet werden, da jeder von seinen Ideen überzeugt oder beinahe besessen ist. Mächtige Gefühle wie Angst. Verzweiflung, Wut, Hass und Hoffnung vermischen sich. Aber jeder Mensch und jede Seele ist ein Geschenk für die Menschheit und das Universum, und darf niemals Opfer des Hasses werden oder gar getötet werden.

CF: Wenn Sie drei Worte finden müssten, um das Kompositionsergebnis zu umschreiben, welche wären diese?

HM: Stabat Mater Furiosa

Neben den hörbaren Narrativ ist es vor allem das Visuelle, das das Publikum berühren soll.

Die britische Tänzerin, Choreografin und Universitäts-Professorin am Mozarteum in Salzburg, Rosamund Gilmore, führt die Regie. Auf meine Fragen zu Ihrer Herangehensweise schreibt sie:

CF: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Komponisten Hossam Mahmoud und dem aspekteFestival?

Rosamund Gilmore (RG): Den Komponisten Hossam Mahmoud und seine musikalische Welt lernte ich 2022 im Rahmen meiner Tätigkeit als Professorin für Musikdramatische Darstellung am Mozarteum Salzburg kennen und schätzen und als ich die Anfrage für die Inszenierung der Uraufführung seines Werkes „Stabat Mater Furiosa“ bekam, war ich sowohl vom Sujet wie auch von der textlichen und musikalischen Umsetzung sofort gefesselt und überzeugt.

CF: Was bringen Sie in die Inszenierung ein, was aus ihrer bisherigen Erfahrung resultiert?

RG: Über die Jahre, die ich Regie geführt habe, versuche ich sowohl bei zeitgenössischen wie auch klassischen Werken jeweils ein magisches Realitätsambiente zu schaffen, um die Geschichten auf eine assoziative Art und Weise erzählen zu können. Durch meinen Ursprung als Tänzerin und Choreographin sind es vor allem die von den jeweiligen Werken evozierten Bilder, die mich inspirieren und die ich über die Körpersprache der Figuren vermitteln möchte, ist diese doch eine universell verständliche Sprache.

Auch wenn der Ursprung des Sujets „Stabat Mater Furiosa“ im arabisch und nordafrikanischen Raum angesiedelt ist, dem ich mich über meinen Mann sehr verbunden fühle, steht für mich die Überführung dieses aktuellen Wutgedichtes in einen globalen Aufschrei durch Hossam Mahmouds Komposition im Vordergrund. Die Auseinandersetzung zeitgenössischer Autoren wie Jean-Pierre Siméon und Hossam Mahmoud mit Krieg und Gewalt sind für mich in Zeiten wie diesen existentiell bedeutsam, zumal es ihnen gelungen ist, die weibliche Perspektive überzeugend einzunehmen.

CF: Haben Sie Erwartungen an die Uraufführung anlässlich des aspekteFestivals?

RG: Bei meinen Inszenierungen ist es mir immer wichtig, einen Dialog zwischen Bühnengeschehen und Publikum zu erzeugen, gewissermaßen einen Kreislauf herzustellen, der auf beiden Seiten individuelle Fantasien und denkerische Freiräume zulässt. Im Unterschied zu Inszenierungen klassischer Werke aber ermöglicht die kreative Arbeit an einer Uraufführung eine besondere Art von Teamarbeit, um die Sicht von künstlerisch tätigen Zeitgenossen auf die Gegenwart in die eigene Suche nach Antworten auf unser Menschsein einzubeziehen.

„Stabat Mater Furiosa“ – Uraufführung im Rahmen der aspekteSALZBURG
Am 7. und 9. März 2024 um 19 Uhr im Max Schlereth Saal, Universität Mozarteum, Mirabellplatz 1, Salzburg

Monolog für Sopran, 3 Frauenstimmen, Frauenchor und Orchester
Libretto von Christian Ollivier nach dem gleichnamigen Theatermonolog von Jean-Pierre Simèon

Mit: Jenifer Lary, Sopran | Annalisa Hohl, Darka Mavlenko, Mariia Tkachenko, Absolventinnen des Thomas Bernhard Instituts | vocalEnsemble und Instrumentalensemble der Universität Mozarteum

Musikalische Leitung: Kai Röhrig
Regie: Rosamund Gilmore
Ausstattung: Selina Schweiger
Dramaturgie: Ronny Dietrich
Choreinstudierung: Giorgio Musolesi

Prof. Claus Friede (Hochschule für Musik und Theater, Hamburg / Institut für Kultur und Medienmanagement)

[1] Schulze, Kirsten: „Rolle und Perspektiven des Libanon in der Region“. In: Wege aus dem Labyrinth? Friedenssuche in Nahost. Baden-Baden 1997.

[2] Übersetzung ins Deutsche: Daniel Grenzenberg.

[3] Paul Valéry (1871–1945) war ein französischer Lyriker, Philosoph und Essayist.

[4] Valéry, Paul: „Rede über die Ästhetik“ (Discours sur l’esthétique) [1937]. In: Actes du Deuxième Congrès International d’Esthétique et de Science de l’Art, Paris, Alcan, 1937, Bd. 1, S. IX–XXXIII.

[5] Und später andere. Das Gedicht wurde zur „Poesie des Theaters“ (« poésie de théâtre »; Siméon) und oft in verschiedenen Theatern als Monolog oder ergänzt als Tanz vor allem in Frankreich und der Schweiz etc. aufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung fand 2016 mit Gabriele Köhlmeier im Literaturhaus Graz statt.

[6] 18 Tage… – Oper für Soli, Schauspieler, Chor und Orchester (2012–2013), Elegie an die Märtyrer der 25. Januar-Revolution – für Violine solo und Streichorchester (2011), Salomon – Oper als Beitrag zum Dialog zwischen arabischer und abendländischer Kultur (2007) u.v.a.

[7] Caspar Johannes Walter: „Mikrotonales Komponieren heute“. In: Texte zu aktuellen Musik Pos.110, Berlin 2017.